Fünf bittere Wahrheiten über Israel
Eine Kolumne von Sascha Lobo
Israel kann sich im Zweifel nur auf sich selbst verlassen. Und das ist nur eine von vielen alten Wahrheiten, neuen Gewissheiten und traurigen Überraschungen, die seit dem Überfall der Hamas vor einem Jahr zutage treten.
02.10.2024, 17.35 Uhr
»Wie Israel sich die Sympathien der Welt verscherzte« heißt eine Geschichte des jüdischen Satirikers Ephraim Kishon von 1963. Sie handelt vom fiktiven Szenario, dass der junge Staat Israel 1956 von mehreren arabischen Staaten überfallen wird (wie es ein paar Jahre zuvor tatsächlich geschehen war). Kishon zeichnet den fiktiven Kriegsverlauf, in dem die arabischen Truppen von fremden Mächten bewaffnet gewinnen, weil Israel zu zaghaft und unorganisiert dagegenhält. In so lustiger wie bitterer Weise beschreibt er die Reaktionen der verschiedenen Regierungen, Institutionen und der Zivilgesellschaften der Welt. Wie die Welt beinahe einmütig das untergegangene Israel bemitleidet und bedauert – ganz anders als zuvor, während des Überlebenskampfes. Kishon schließt mit einer Einsicht, die aktueller nicht sein könnte: »Leider beging Israel den Fehler, eine solche Wendung der Dinge nicht abzuwarten […] und hat damit eine einzigartige Gelegenheit versäumt, sich die Sympathien der Welt zu sichern.«
In einem Jahr seit dem Überfall der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung hat Israel in sehr überzeugender Weise versäumt, Opfersympathien einzusammeln. Im Gegenteil, statt Opfersympathie gibt es Victim Blaming, das Opfer wird also für die Taten der Täter verantwortlich gemacht. Mehr noch, und auch das hat das Jahr nach dem 7. Oktober gezeigt: Klammheimliche oder ganz offene Freude über Morde an Juden ist verstörend oft zu sehen. In sozialen Medien wurden Videos verbreitet, die »propalästinensische« Demos und Aktivist:innen zeigen , wie sie offenbar die iranischen Raketenangriffe auf die israelische Zivilbevölkerung feiern. Ephraim Kishon müsste heute zusehen, wie in vielen Teilen der Welt ein hypothetisches Ende von Israel nicht einmal mehr falsch bedauert, sondern frenetisch gefeiert würde. Natürlich war die Geschichte insgesamt ohnehin eine satirische Projektion. Aber in Sachen Israel und Judenhass hat das Jahr nach dem 7. Oktober eine ganze Reihe von neuen (oder alten, neu bestätigten) Wahrheiten gebracht, eine Anzahl an Gewissheiten, die zuvor nur Vermutungen waren – und auch einige Enttäuschungen und bittere Überraschungen. Fünf wesentliche davon möchte ich hier vorstellen.
Israel ist im Zweifel allein
Nichts zeigt die Notwendigkeit eines jüdischen Staats deutlicher als der derzeit weltweit grassierende Judenhass. Die bittere Wahrheit: Trotz verschiedener Lippen- und anderer Bekenntnisse hat Israel allen Grund, sich im Zweifel nur auf sich selbst zu verlassen. Absurde, israelfeindliche Uno-Resolutionen werden selbst von Israel-Partnern wie jüngst Deutschland durchgewunken oder ignoriert. Israel wird regelmäßig verurteilt auf Basis von Täter-Opfer-Umkehr, Bigotterie oder schlichten Fake News. Und dass angeblich die Sicherheit Israels »deutsche Staatsräson« sei, hat selten faktische Folgen. Stattdessen finden ausgerechnet im Selbstverteidigungsfall Israels fast gar keine Waffenlieferungen mehr statt, nicht einmal eindeutige Verteidigungswaffen. Weniger »Staatsräson« geht kaum.
Die EU hält in einer so bizarren wie künstlichen Trennung zwar den »bewaffneten Arm« der Hisbollah für eine Terrororganisation – den »politischen Arm« dagegen nicht. Das ist, als würde man sagen: Nein, diese Kobra ist nicht giftig! Nur das Zeug in ihren Zähnen halt. Und selbst die USA, die doch der verlässlichste Verbündete der einzigen Demokratie im Nahen Osten sind, erweisen sich unter anderem durch den Wahlkampf als weniger Israel-unterstützend als früher. Da die Demokraten bei der Wahl im November auch auf, sagen wir, sehr israelkritische Stimmen angewiesen sind, sehen sich Joe Biden und damit auch Kamala Harris offenbar gezwungen, Unterstützung und Zurückhaltung politisch auszubalancieren. Die Zurückhaltung kommt allerdings ausgerechnet in einer eindeutig überlebensrelevanten, politischen Existenzialsituation für Israel. Die Quintessenz: Im Zweifel kann Israel nur auf sich selbst zählen. Auch wenn Kishon natürlich recht hat, dass ganze viele aufrechte Menschenfreunde weltweit es voll schade finden würden, wenn Israel unterginge. Wirklich voll schade!
Linke sind in großer Zahl und mit großer Selbstverständlichkeit antisemitisch
Die Zahl der linken Antisemiten ist sogar deutlich höher, als man vorher hätte vermuten können. Sie umfasst nämlich neben substanziellen Teilen der Kultur- und Universitätslandschaft insbesondere auch solche Linke, die sich vor dem 7. Oktober lautstark gegen »Antisemitismus« positioniert hatten. Absurderweise tun sie das teilweise sogar immer noch – während sie gleichzeitig entweder akzeptierenden Antisemitismus betreiben, also gemeinsame Sache mit eindeutigen Judenhassern machen. Oder sogar selbst israelbezogenen Antisemitismus in gruseligen Varianten vortragen. »Free palestine from German guilt« skandierten linke und migrantische Demonstrierende nach dem Hamas-Überfall auf Israel – endlich mit der Nazigeschichte abschließen, nur von links. Mit die größte Enttäuschung, wenn auch leider keine allzu riesige Überraschung, ist das Schweigen oder sogar die offene Judenfeindlichkeit eines Teils der antirassistischen Bewegung. Zahlreiche Aktivist:innen, die es vor dem 7. Oktober sehr genau nahmen mit allen möglichen Formen der Menschenfeindlichkeit, sind inzwischen auffällig stumm oder ignorieren die antisemitische und antiisraelische Gewalt komplett. Eine der letzten und absurdesten Volten: Der schwarze Berliner Kultur-Senator Joe Chialo wurde von linken, weißen Demonstrierenden als Rassist beschimpft. Ein beklemmendes Symbol, wie weit sich die antisemitische Linke von jedem noch so sanften Kontakt mit der Realität entfernt hat.
Westliche Gesellschaften sind viel zu anfällig für islamistische Ideologien
Auf den Straßen westlicher Großstädte, stärker aber noch in sozialen Medien grassiert ein Islamismus mit der wesentlichen Folge eines hyperemotionalisierten Antisemitismus. Bei vorgeblich propalästinensischen Demos erkenne ich eine islamistische, antisemitische Ideologie in den Köpfen und Herzen. Und vor allem auf TikTok kann man sehen, wie Islamisten arbeiten: Sie versuchen, enttäuschte, oft auch diskriminierte und abgehängte Jugendliche von ihren autoritären, menschenfeindlichen Haltungen zu überzeugen. Die antisemitische Folklore in muslimischen Ländern und dadurch in zu vielen Köpfen muslimischer Einwanderer im Westen kommt noch hinzu.
Gleichzeitig hat sich über Jahrzehnte ein linke, bürgerliche und liberale Verharmlosung des Islamismus etabliert, die bis heute wirksam ist. Gründe gibt es dafür viele unterschiedliche: Mal möchte man als Linker nicht einmal theoretisch als »Rassist« beschimpft werden – es ist eine bekannte Strategie von Islamisten, jede Gegnerschaft sofort als rassistisch zu brandmarken. Mal möchte man aber doch so gern gute Geschäfte machen mit ultraislamistischen Ländern. Und mal sieht man auf subtil rassistische Weise in sämtlichen zugewanderten Muslimen eine Art gleichförmigen, monolithischen Block, ohne sich mit den extrem großen Unterschieden dieser sehr diversen Gemeinschaften zu beschäftigen. Zu denen eben leider auch Extremisten gehören.
Viele Institutionen tragen offenen oder strukturellen Antisemitismus in sich
Israelische, amerikanische und jüdische Organisationen wie etwa UN-Watch warnten – wie die israelische Regierung selbst – oft vor den Verbandelungen etwa der Uno mit islamistischen und sogar terroristischen Organisationen. Insbesondere die UNRWA, die Uno-Organisation für palästinensische Flüchtlinge, stand dabei im Fokus. Es ging dabei vor allem um die gefährliche Nähe der UNRWA zur Hamas. Die Uno bestritt praktisch alles und reagierte empört. Vor einigen Wochen schließlich sah sich die UNRWA nach langem Abstreiten gezwungen, eine Reihe Mitarbeitende rauszuschmeißen – weil sie am Hamas-Überfall vom 7. Oktober beteiligt gewesen sind. Und bei einem Angriff Israels auf Hisbollah-Spitzen kam auch ein Mann zu Tode, der Vorsitzender der UNRWA-Lehrervereinigung im Libanon war. Die Hamas trauerte um ihn und outete ihn in diesem Zug als Hauptverantwortlichen für die Zusammenarbeit von Hamas und Hisbollah. Man könnte das alles längst wissen, schließlich sagte der damalige UNRWA-Chef Peter Hansen schon 2004: »Oh, ich bin sicher, dass Hamas-Mitglieder auf der Payroll der UNRWA stehen. Und ich sehe das nicht als Verbrechen an.« So handelt unter anderem die EU dann ja auch, nach einer Unterbrechung steht die Finanzierung der UNRWA auch aus Deutschland inzwischen wieder fast in voller Pracht.
Was die internationale Medienlandschaft angeht, wird eine besondere Form des strukturellen, niedrigschwelligen Antisemitismus oder Israelhass sichtbar. Die Website und der Instagram-Account »honestreporting« der gleichnamigen amerikanischen NGO hat sich zur Aufgabe gemacht, antiisraelische Verzerrungen in großen, redaktionellen Medien aufzuzeigen. Und dort wird immer wieder erkennbar, wie häufig und weitverbreitet sich Israelhass oder zumindest implizite Israelablehnung schon in der Wortwahl niederschlägt. Wenn zum Beispiel der Massenmörder und Erzterrorist Hassan Nasrallah als »gemäßigt« beschrieben wird. Oder wenn die zugeschriebenen Eskalationen stets von Israel ausgehen. Diese Aufzählung könnte noch praktisch ewig weitergehen, übrigens auch mit Beispielen aus deutschen Medien, sogar solchen, die mir persönlich sehr nahestehen.
Das iranische Regime muss enden
Die wahrscheinlich tiefgreifendste und auch kürzeste Einsicht ein Jahr nach dem 7. Oktober ist jedoch: Ohne das Ende des iranischen Terrorregimes ist ein echter und dauerhafter Frieden im Nahen Osten nahezu ausgeschlossen. Die islamistischen Menschenfeinde in Mullah-Form in Teheran unterdrücken nicht nur die Bevölkerung Irans, insbesondere die Frauen und alle möglichen Minderheiten. Sie sind auch ein entscheidender Grund für den Terror und den Krieg. Viele Fachleute glauben sogar, dass der definitiv von Iran beeinflusste Hamas-Überfall auf Israel vor allem den Friedensprozess von Israel mit arabischen Staaten wie Saudi-Arabien stören sollte. Das iranische Regime muss gestürzt werden, damit die iranische Bevölkerung, Israel und auch die Palästinenser leben können.
© Sascha Lobo / Der Spiegel